Atem & Gesang

Sänger brauchen einen in jeder Hinsicht langen Atem. Tief und weit sollte der Atem sein, aber auch schnell und flexibel. Er sollte strömen, gleichzeitig dosierbar sein, außerdem emotional, ausdrucksstark und der Musik entsprechend. Der Atem öffnet Räume. Er durchfließt Töne und Worte und strukturiert Phrasen. Im stimmbildnerischen Prozess dient er als Handwerkszeug, um Stimmeinsatz, Klangführung, Legato, eine plastische Artikulation, die Stütze und das Appoggio zu erarbeiten. Herzstück der sängerischen Arbeit ist die Gestaltung der Phonation, das Balancieren von Ausatemluft und Stimmlippenwiderstand. Das Erleben des „Cantare sul fiato“, des Singens auf dem Atem, ist Ziel und wahres Glücksgefühl für Sänger, wenn es gelingt.

Den Weg hin zu diesem sängerischen Ziel können allerdings diverse Atemprobleme erschweren. Deren Ursachen auf die Schliche zu kommen, ist nicht immer einfach. Denn der Atem zeigt sich in Körperbereichen und in Situationen, die nicht unmittelbar mit „Atmung“ in Verbindung gebracht werden. Der Atem ist ver-körpert und als Spiegel des Lebens und der aktuellen Lebenssituation lesbar. Der Atem ist ein signifikantes Persönlichkeitsmerkmal, das in den Gesang fließt.  

Graf Dürckheims Aussage „Es atmet der Mensch - nicht nur das Zwerchfell, nicht die Lunge, nicht der Bauch. Es atmet der Mensch“, bringt auf den Punkt: Der Mensch, der atmende, der singende und musizierende, ist nur in seiner Gesamtheit von Körper, Geist und Psyche zu verstehen. So erklärt es sich, dass der Atem nicht so einfach als „Technik“ zu erlernen ist und sich nicht alle sängerischen Atemprobleme auf stimmbildnerischer Ebene lösen lassen. Der Zugang zum sängerischen Atem geschieht über Körperempfindung, Bewusstheit, über den Klang und die Musik.